24. Jul 2012
Mapuche in Chile Zerstörung mit Feuer und Wasser.
Quelle: http://www.faz.net/
In der chilenischen Araucanía, einer Landschaft mit einem einzigartigen Ökosystem, verhindern ungenaue Gesetze und der Kompetenzwirrwarr der Behörden einen effektiven Umweltschutz.
Von Josef Oehrlein, Temuco
Wie an einer unsichtbaren Kette aufgereiht, ragen die schneebedeckten Gipfel der Vulkane aus dem noch im Dunkeln liegenden Gebirgsmassiv der Anden. Im zarten Vormittagslicht bietet sich aus dem Flugzeug, das schon den Anflug auf die südchilenische Stadt Temuco begonnen hat, ein spektakulärer Anblick auf den Vulkangürtel der Anden und die Landschaft davor aus Araukarienwäldern, Seen und fruchtbarem Weide- und Ackerland, das sich bis zum Meer hinunter erstreckt. Die Vulkane Tolhuaca, Lonquimay und Llaima schlafen, der weiter südlich liegende, vor einem Jahr ausgebrochene Puyehue ist auch wieder zur Ruhe gekommen.
Nach der Ankunft in Temuco sticht scharfer Rauchgeruch in die Nase. Gegen Abend verstärkt er sich, wird zu einem beißenden Nebel. „Hier wird mit Holz geheizt, schlimmer noch, mit nassem Holz“, erklären die Bewohner das für sie ganz normale Phänomen im Winter auf der Südhalbkugel. Die ersten Schneefälle haben schon eingesetzt, abends wird es empfindlich kalt. „Wir haben in Chile eine strenge Norm für Partikelemission“, sagt Andrea Flies Lara, die Regionalsekretärin des Umweltministeriums, in ihrem eher ausgekühlt wirkenden Büro. „Wir messen die Luftqualität“, beteuert die „Seremi“, gibt dann aber unumwunden zu, dass das staatliche Programm zur Bekämpfung der Luftverschmutzung zu „lax“ sei.
Erst 2010 wurde das Umweltministerium geschaffen
Das Heizen mit feuchtem Holz ist beileibe nicht die einzige Umweltsünde, die in der Araucanía begangen wird und den Lebensraum der so jungfräulich wirkenden Landschaft bedroht. Die großen holzverarbeitenden Unternehmen sind sowieso schon mehrfach durch die Wälder gezogen und haben alles an wertvollen Hölzern herausgeholt, was ihnen in die Säge kam. Bis auf die Araukarien. Die stehen schon seit langem unter strengem Naturschutz, sie wild zu fällen wird mit strengen Strafen belegt. Ein regierungsamtliches Umweltbewusstsein gibt es in Chile erst seit 2010; damals wurde in dem mit einzigartigen Naturlandschaften gesegneten Land überhaupt erst ein Umweltministerium geschaffen. Zuvor lag die Zuständigkeit für Umweltfragen irgendwo in einem Regierungssekretariat, bei einer Kommission für Umwelt, die keinerlei politisches Gewicht hatte.
Jetzt werde der Natur- und Umweltschutz professioneller betrieben, sagt Andrea Flies Lara. Nun sollten endlich Studien über das Ökosystem und die Umwelteinflüsse Aufschluss über den tatsächlichen Grad der Umweltschäden geben, sollten Umweltsünder stärker zur Rechenschaft gezogen werden. Doch aus der Wortflut, mit der die „Seremi“ die Absichten ihres Ministeriums erläutert, geht auch hervor, dass ein wunderlicher Kompetenzwirrwarr jeder noch so gut gemeinten Strategie im Wege steht. „Wir warten auf die Einrichtung einer eigenen Behörde für die Schutzgebiete“, sagt sie. Im staatlichen Apparat Chiles ist alles, was zum Thema Biodiversität gehört, in eine Vielzahl von Ressorts aufgeteilt, die verschiedenen Ministerien unterstehen und oft nebeneinander, hier und da wohl auch gegeneinander arbeiten.
Die Araucanía ist die Heimat des größten Teils der Volksgemeinschaft der Mapuches; sie ist das Kerngebiet der Ethnie, die seit Urzeiten in der Region siedelt. Die Mapuches waren Nomaden und Herren des gesamten Gebietes, von den spanischen Eroberern sind sie nie unterworfen worden. Der Einfluss der europäischen Kolonialmacht reichte nur bis zum Bío-Bío-Fluss. Das Gebiet südlich davon, einschließlich der Araucanía, war stets Mapuche-Land. Ende des 19. Jahrhunderts hat der chilenische Staat damit begonnen, den Mapuches über „Eigentumstitel“ Land zuzuteilen. Später strömten europäische Kolonisten vor allem aus Deutschland, der Schweiz und Italien in die Region. Auf legale, noch häufiger auf unrechtmäßige Weise machten Großgrundbesitzer und die holzverarbeitende Industrie den Mapuche-Gemeinschaften die Titel wieder streitig.
In der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990 sind gemäß der Staatsdoktrin die Mapuches gar nicht als eigene Volksgemeinschaft wahrgenommen worden, sie galten schlicht als „Chilenen“. Erst nach der Rückkehr zur Demokratie begann sich der Staat wieder um die Belange der Minderheiten zu kümmern. Als eine Art Wiedergutmachung wurde 1993 die „Conadi“, die „Nationale Korporation für indigene Entwicklung“, gegründet, die sich seitdem um die Anliegen der einzelnen Ethnien zu kümmern begann. Als der Natur von jeher eng verbundene Volksgemeinschaft sind die schätzungsweise bis zu 250.000 heute in der Region lebenden Mapuches von den Umweltzerstörungen in ihrem Lebensraum besonders hart betroffen. Vor allem das Wasser ist ein wesentliches Element ihrer Weltsicht.
Flüsse spenden den Mapuches Stärke und Heilkraft
„Die Mapuches sehen sich als Teil des Ganzen, sie stehen in engster Verbindung zu ihrer Umwelt. Für sie sind die Flüsse Leben, sie spenden ihnen Stärke und Heilkraft“, beschreibt Hernán Muñoz, der Umweltbeauftragte der Conadi für die Araucanía, in seinem Büro in Temuco das sensible Verhältnis der einstigen Urbewohner zu ihrem Lebensraum. Gerade das Wasser, das in reinster Form und in großer Menge aus den Anden in die Ebene hinabfließt, wird jedoch auf vielfältige Weise benutzt, verschmutzt und verseucht. Das führte immer wieder zu heftigen Konflikten zwischen Mapuches und großen Industriekonzernen sowie staatlichen Behörden. Bei den Protesten gab es auch Tote, die Polizei ging oft mit großer Härte vor, weil sie die Anführer als „Terroristen“ behandelte.
Für Mapuches ist es schon eine Störung des Gleichgewichts in der Natur, wenn Wasser durch Kraftwerksturbinen geleitet wird. Doch gerade das Aufstauen von Flüssen und Seen zur Gewinnung „erneuerbarer“ elektrischer Energie ist in Chile zur größten Quelle von Umweltkonflikten geworden. Das Megaprojekt „HidroAysén“, bei dem in der südlich der Araucanía gelegenen Region Aysén in zwei Flüssen fünf Wasserkraftwerke gebaut werden sollen, die die Landschaft erheblich verändern werden, hat nicht nur bei den Bewohnern des Gebietes, sondern in ganz Chile zu Protesten geführt. Durchgesetzt haben sich das Konsortium Endesa-Colbún und die Politiker in der Hauptstadt Santiago, von denen nicht wenige selbst unternehmerische Interessen an den Energieprojekten haben. Der Oberste Gerichtshof hat das Vorhaben abgesegnet.
Der Besitz von Wasser und Land ist in Chile getrennt
Die im wasserreichen Süden Chiles erzeugte Elektroenergie kommt freilich nicht der Region zugute, in der sie erzeugt wird. Sie wird vielmehr über Hunderte und Tausende Kilometer über Starkstromleitungen in das städtische Ballungsgebiet der Hauptstadt und zu Industriestandorten im Land geleitet, bis hinauf in die Atacamawüste zu den Kupferbergwerken. Den Sündenfall sieht Hernán Muñoz in dem 1981, mitten in der Pinochet-Diktatur, verabschiedeten und noch immer gültigen „Wasserkodex“, der den Besitz von Land und Wasser trennt. Wer Land besitzt, hat demnach nicht das Recht, das durch das Terrain fließende Wasser, das einem anderen Eigentümer – wie etwa den großen Energiefirmen – gehört, nach Belieben zu nutzen.
Kritiker bemängeln, dass in Chile das Wasser als Wirtschaftsgut und nicht als natürliche Ressource angesehen wird. Damit bleibt es den Eignern nahezu völlig freigestellt, ob und wie sie es nutzen. Es gibt nur sehr schwache oder gar keine Regulierung. Damit sind Spekulation und Willkür alle Schleusen geöffnet. Die Energieunternehmen und die ihnen als Lobbyisten oder gar Teilhaber verbundenen Politiker bezeichnen den ungebremsten Zugriff auf die Wasserressourcen im Süden Chiles als notwendig für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Der Staat kontrolliert jedoch die Umweltverträglichkeit von Wassernutzungsprojekten nur unzulänglich oder gar nicht, in vielen Fällen versickert die Aufsichtspflicht im Wirrwarr von Bestimmungen und im Kompetenzgerangel der Behörden.
Dabei sind die Stauseen und Wasserkraftwerke nicht einmal die schlimmsten Verursacher der Wasserverschmutzung, die in manchen Gegenden der Region katastrophale Ausmaße annimmt. Das kristallklare Nass, das aus dem Hochgebirge in den Bächen und Flüssen herabfließt, ist das Element, in dem sich junge Lachse besonders wohl fühlen. Das nutzt die chilenische Fischindustrie ohne Hemmungen, um in großen Mengen Lachseier in die Region zu transportieren und die frisch geschlüpften Lachse in dem Süßwasser großzuziehen.
Jährlich werden in der Araucanía nach verlässlichen Angaben auf diese Art 3000 Tonnen Lachs produziert. Da an den meisten Gewässern gleich mehrere Fischzuchtanlagen dem Geschäft nachgehen, ist die Verschmutzung der im Unterlauf zusätzlich durch ungeklärte Abwässer verunreinigten Flüsse durch die Ausscheidungen der Fische, durch Nahrungsreste, Chemikalien und Medikamente erheblich. Wenn die Lachse ein Gewicht von je 80 bis hundert Gramm erreicht haben und Salzwasser benötigen, werden sie wieder in ihre Herkunftsregion weiter im Süden transportiert und in den Aufzuchtanlagen im Pazifik ausgesetzt, dessen Wasser dann auch noch belastet wird.
„Es sind keine Kleinproduzenten, die die Anlagen betreiben, sondern große Fische“, sagt Hernán Muñoz, „unter ihnen die beiden größten in Chile ansässigen Lachsfabriken.“ Die gesetzlichen Bestimmungen machten es ihnen leicht, die behördliche Genehmigung zu erhalten. In den meisten Fällen genüge eine „Umweltverträglichkeitserklärung“, bei der mögliche Betroffene nicht informiert oder gar befragt werden müssen. „Das System ist nicht dafür geschaffen, ein Projekt abzulehnen, es wird lediglich geprüft, ob die Bestimmungen eingehalten werden“, sagt Muñoz.
In der Regel wird immer nur eine einzelne Anlage abgenommen; das hat zur Folge, dass die Gesamtbelastung durch alle an einem Wasserlauf existierenden Betriebe und deren Folgen für die Natur oder für naturverbundene Aktivitäten wie den in dem Gebiet aufblühenden Ökotourismus nicht untersucht werden. Und neue Gefahren ziehen herauf. Völlig ungewiss ist, in welchem Ausmaß die geplanten Geothermiekraftwerke, mit denen die Erdwärme genutzt werden soll, die Wasserqualität beeinträchtigen und die nahezu unberührte Landschaft am Fuß der Vulkane zerstören werden.
In dem Naturparadies der Araucanía liegt das schon 1983 von der Unesco ausgewiesene und 2010 erweiterte Biosphärenreservat „Araucaria“. Trotzdem ist die Region auf dem besten Weg, zu einer einzigen Müllkippe zu werden. Allein die Stadt Temuco produziert täglich bis zu 250 Tonnen Abfall, der zusammen mit dem Unrat aus anderen Gemeinden in 18 Müllkippen im Umland gelagert wird. Ein großer Teil dieser Deponien muss über kurz oder lang geschlossen werden, weil sie einfach nichts mehr aufnehmen können. Was dann mit dem Abfall geschieht? Große Ratlosigkeit. Die „Seremi“ Andrea Flies beteuert, dass die Müllentsorgung ausschließlich in die Zuständigkeit der Gemeinden falle, ihr Ministerium keinen Einfluss habe und allenfalls Ratschläge erteilen dürfe. Aber die Gemeinden können sich offenbar nicht einigen.
Miguel Becker, der Bürgermeister von Temuco, Spross einer aus Frankfurt stammenden deutschen Auswandererfamilie, hat für fast alle Probleme, die seine Stadt bedrücken, einen Plan. Kein Wunder – der joviale Politiker stellt sich Ende Oktober zur Wiederwahl. Den Müll will er zwar trennen lassen und zumindest teilweise dem Recycling zuführen. Doch hält er an dem grundsätzlichen Plan fest, den Abfall in Deponien zu lagern, auch wenn Fachleute raten, in der Region mit ihrem empfindlichen Ökosystem moderne Pyrolyseanlagen zu verwenden.
Bürgermeister Becker hat die Idee, das aus den Mülldeponien austretende Gas aufzufangen und damit das Brennholz zu trocknen. Das würde auch die Luftverschmutzung im Winterhalbjahr durch das nasse Brennholz mindern. Er ist allerdings auch dafür, dass konsequent die Wasserkraft für die Energieerzeugung benutzt wird. Selbst wenn das chilenische Patagonien an „Attraktivität“ verliere, sei es nötig, die für die Industrie und andere Wirtschaftszweige nötige Elektroenergie zu erzeugen, sagt er. „Wir können nicht das Risiko eingehen, eines Tages keinen Strom mehr zu haben.“
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